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Kategorie: Interviews

Eindringlich ruft das „Wir haben es satt!“ Bündnis zudem zum Verzicht auf das zwischen der EU und Brasilien geplante Mercosur-Abkommen auf. Mit dem geplanten Vertrag mit der rechtspopulistischen Regierung des brasilianischen Staatspräsidenten Jair Bolsonaro würden Menschenrechtsverletzungen und Klimaschädigungen auch nach Deutschland importiert, warnte der brasilianische Agrarwissenschaftler Antonio Andrioli.

Mehr als 10.000 Demonstranten für Agrarwende erwartet
Die Welt - Wirtschaft. Veröffentlicht am 14.01.2020 | Lesedauer: 4 Minuten

Proteste für und gegen eine Agrarwende: Vor dem Beginn der Grünen Woche in Berlin hat Bundesagrarministerin Julia Klöckner (CDU) vor einer Radikalisierung der Demonstrationen rund um die Landwirtschaft gewarnt. Auch unter Landwirten gebe es „radikale Aufrufe, vor allem in den digitalen Netzwerken“, sagte Klöckner der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Unterdessen rief das Bündnis „Wir haben es satt!“ gemeinsam mit rund 100 Organisationen erneut zu einer Demonstration für den Umbau zu einer Landwirtschaft mit mehr Umwelt-, Tier- und Klimaschutz auf. Erwartet werden dazu am Samstag in Berlin mehr als 10.000 Teilnehmer aus ganz Deutschland.

Sie fordern von der Bundesregierung eine Agrarwende und deren Finanzierung. Ausdrücklich suche das „Wir haben es satt!“-Bündnis auch den Dialog mit Gegnern eines umwelt-, tier- und klimaverträglichen Umbaus der Landwirtschaft, hieß es. Die Zuspitzung der Debatte in der Landwirtschaft sei das Ergebnis eines „eklatanten Politikversagens“ in den vergangenen Jahren, sagte Konstantin Kaiser, agrarpolitischer Sprecher des Naturschutzbundes Deutschland.

Er betonte zugleich, dass 2020 die besondere Chance bestehe, entscheidende agrarpolitische Weichenstellungen für die Zukunft vorzunehmen. So werde der EU-Agrarhaushalt mit einem Umfang von 60 Milliarden Euro jährlich neu verhandelt. Mit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ab dem 1. Juli 2020 komme der Bundesregierung eine besondere Verantwortung für einen umwelt-, tier- und klimaverträglichen Umbau der Landwirtschaft zu. So könnten etwa EU-weite Standards für faire Wettbewerbsbedingungen für alle Bäuerinnen und Bauern sorgen.

Dringend nötig seien zudem faire Preise für landwirtschaftlich erzeugte Lebensmittel, betonte Georg Janßen von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft. Aktuell lägen die Verkaufspreise für Milch in Deutschland mit etwa 32 Cent pro Liter unter den Erzeugerpreisen von 44 Cent pro Liter. Der Lebensmittelhandel wolle zudem immer mehr Fleisch für immer weniger Geld anbieten. Ministerin Klöckner sollte ein Werbeverbot für Dumpingpreise in der Lebensmittelindustrie durchsetzen, forderte Janßen.

Eindringlich ruft das „Wir haben es satt!“ Bündnis zudem zum Verzicht auf das zwischen der EU und Brasilien geplante Mercosur-Abkommen auf. Mit dem geplanten Vertrag mit der rechtspopulistischen Regierung des brasilianischen Staatspräsidenten Jair Bolsonaro würden Menschenrechtsverletzungen und Klimaschädigungen auch nach Deutschland importiert, warnte der brasilianische Agrarwissenschaftler Antonio Andrioli. Angesichts der bedrohlichen Abholzung des Regenwaldes sollte Europa auf den massenhaften Import von Soja, billigem Fleisch und Ethanol aus Zuckerrohr aus Brasilien verzichten, betonte der Vize-Rektor der Universidade Federal da Fronteira Sul im Bundesstaat Santa Catarina.

Zum Bündnis „Wir haben es satt!“ gehören den Angaben zufolge mehr als 50 Bauern-, Umwelt-, Naturschutz-, Verbraucher- und Entwicklungsorganisationen, darunter Greenpeace, „Brot für die Welt“, Inkota und Misereor. Die Großdemonstration findet bereits zum zehnten Mal anlässlich der Agrarmesse Grüne Woche und der internationalen Agrarministerkonferenz in Berlin statt.

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace sprach sich im Vorfeld der Grünen Woche für eine „Tierwohlabgabe“ aus, die Bauern beim Umstieg auf eine artgerechtere Tierhaltung helfen soll. Eine solche Abgabe von bis zu 50 Cent auf jedes Kilogramm Fleisch könne „den sofortigen Ausstieg aus der nicht tiergerechten Haltung finanzieren“, erklärte Greenpeace. Dabei solle eine transparente und zweckgebundene Verwendung der Einnahmen sicherstellen, dass das Geld der Verbraucher auch zielgenau bei den landwirtschaftlichen Betrieben ankomme. „Wenn wir als Gesellschaft ein schnelles Ende der quälerischen Tierhaltung wollen, müssen wir Landwirte, die in mehr Tierwohl investieren wollen, mit öffentlichen Mitteln fördern“, erklärte Greenpeace-Landwirtschaftsexperte Martin Hofstetter. „Gerade kleine und mittlere Betriebe können die Mehrkosten nicht aus eigener Kraft stemmen.“

Greenpeace stützt sich bei dieser Forderung auf eine Analyse der Denkfabrik Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft im Auftrag der Umweltschutzorganisation. Dabei habe sich gezeigt, dass die finanzielle Belastung von Verbrauchern durch die Tierwohlabgabe in allen untersuchten Varianten „überschaubar“ bleibe. Sie liegt demnach stets unter zehn Euro im Monat und ist in erster Linie abhängig vom Fleischkonsum. Greenpeace schlägt eine Steuerreform inklusive einer Angleichung der Mehrwertsteuer für Fleisch und Milchprodukte vor, die den Verbrauch pflanzlicher Produkte erschwinglicher machen und den Konsum tierischer Erzeugnisse reduzieren soll. So könnten die Ausgaben der Privathaushalte für Lebensmittel bei weniger Fleischverzehr unter dem Strich sogar sinken.

https://www.welt.de/print/die_welt/wirtschaft/article204998338/Mehr-als-10-000-Demonstranten-fuer-Agrarwende-erwartet.html?fbclid=IwAR3XYOtkO7j6hekHX6zb0UIeyaFZRwgxfbBE-W0CZXytgw3LObPejPcbhVU